wahlatlas.net

Was bringt das Bar Chart Race?

In den letzten Wochen habe ich einige Male versucht zu erklären, was ein Bar Chart Race ist, ohne es zu zeigen. Auch bei der Frage, ob es denn ein deutsches Wort dafür gibt, zeigte sich, dass ich das Wesen dieser animierten Grafik noch nicht vollständig verstanden hatte. Worin besteht das Wettrennen der Balken und handelt es sich um eine kurzfristige Mode oder ist es eine ernstzunehmende Erweiterung im Werkzeugkasten der Datenvisualisierung?

Mit der Pressekonerenz „Städte-Boom und Baustau: Entwicklungen auf dem deutschen Wohnungsmarkt 2008 – 2018“ hat Destatis am 4. Dezember 2019 ein Bar Chart Race veröffentlicht und damit kann es sich jetzt jede und jeder einmal ansehen:

Das ganze basiert auf einer Idee von John Burn-Murdoch, der für die Financial Times damit u.a. beeindruckende Zeitreihen zum Börsenwert der größten Unternehmen der Welt visualisiert hat und seine Umsetzung mit D3.js auf Observable als live-code dokumentiert. Der D3-Erfinder Mike Bostock hat jüngst auf Hacker News das Bar Chart Race seziert und urteilt:

A bar chart race is in many ways “worse” than a static chart. The bar chart race forces you to wait for the animation to finish, whereas a static chart shows you everything simultaneously, and lets you look forward or backward in time by just moving your eyes. This can be generalized to say that a well-designed static chart is often better than an interactive or animated chart, since in the static chart, everything is visible up-front.

But in the same way that a good visual hierarchy directs the reader’s attention and simplifies a complex interface, bar chart races (and animations more generally) are effective at getting the viewer to watch the race as it originally played out, from start to finish. Time in the data is represented as real time, so you’re only able to see a single moment in time.

So bar chart races are probably worse for most perceptual tasks, but as a storytelling device, they are (seemingly) quite effective.

Mike Bostock: “Bar Chart Race, Explained” (November 14, 2019)

Mike Bostock weist zu Recht darauf hin, dass eine gut gemachte statische Grafik effizienter ist, weil sie schneller erfasst wird und mehr Übersicht gibt. So war es auch bei den Tests zum Bar Chart Race nicht verwunderlich, dass eine Vorspulen-Funktion vermisst wurde.

Das Liniendiagramm zeigt zunächst einmal ganz deutlich, dass sich im Bereich der 500 Tsd. Einwohner einige Städte tummeln, ohne dass dort besondere Auffälligkeiten auszumachen sind. Die größten Zacken in positiver Richtung sind die Eingemeindungen in Köln Mitte der 1970er Jahre. Demgegenüber stehen Verluste mit den Zensusergebnissen, wobei diese nicht bei allen Städten und in allen Zensen gleich stark auftreten.

Schließlich wirkt das „Wettrennen“ zwischen Leipzig und Dresden seit der Wiedervereinigung im Liniendiagramm weit weniger dramatisch als im Bar Chart Race. Die Sortierung der Balken verleiht der Bewegung eine zusätzliche Dynamik und gibt ihr auch im erweiterten Sinne einen Spin. Kritiker würden sagen, die ständige Sortierung übertreibt die Zu- und Abnahme der Einwohnerzahl. Denn verglichen mit der linear skalierten horizontalen Achse reagiert die vertikale mit ihrem ordinalen Skalenniveau schon auf kleine Änderungen mit einer sehr auffälligen Bewegung. Theoretisch braucht es ja für einen visuell sehr eindrücklichen Wechsel der Balken nur einen einzigen Einwohner mehr oder weniger, was angesichts der Größenordnung von 500 Tsd. weit unterhalb der Messgenauigkeit liegt.

Besonders deutlich wird das, wenn man im Bar Chart Race die Sortierfunktion für die Balken einmal abschaltet. Das sieht zugegebenermaßen schon eine ganze Nummer langweiliger aus, obwohl sich ja an den Daten gar nichts geändert hat:

Sie haben wirklich bis hierher gelesen? Dann hat sich die Frage nach dem Sinn des Bar Chart Races ja schon erübrigt. Es ist nichts Schlimmes dabei, mit einem visuellen Aufmacher in ein Thema hineingezogen zu werden, das hat guter Photojournalismus schon immer gemacht. Es geht eben nicht immer nur um die Effizienz bei der Informationsvermittlung. Die Inhalte der Tagesschau kann man in drei Minuten lesen und dennoch wird das Fernsehpublikum anscheinend nicht müde, Politikern dabei zuzusehen, wie sie in Autos ein- und aussteigen. Das Bar Chart Race bringt dagegen etwas neues, auch wenn es weniger Saarländerinnen und Saarländer zeigt.

Und auch in anderen Sphären funktioniert das, etwa bei Menschen, die sich erst mit Kunst auseinandersetzen wenn sie in einem bemerkenswerte Gebäude wie der Tate Modern präsentiert wird oder wenn andere zur Musik finden, weil sie von der Elbphilharmonie als Gebäude angesprochen werden. Ist also das Bar Chart Race ein Teil der Festivalisierung der statistischen Grafik? Schlimm wäre das nicht, die Liniengrafik ist nicht vom Aussterben bedroht, die Gruppe der Statistik-Interessierten schon eher.